Ein Tor zur Selbstständigkeit | Kurier Dachau

Veröffentlicht am 19.12.2023 17:28

Ein Tor zur Selbstständigkeit

Se wird „München” in Braille-Schrift lesbar. (Foto: job)
Se wird „München” in Braille-Schrift lesbar. (Foto: job)
Se wird „München” in Braille-Schrift lesbar. (Foto: job)
Se wird „München” in Braille-Schrift lesbar. (Foto: job)
Se wird „München” in Braille-Schrift lesbar. (Foto: job)

Am 4. Januar 2024 feiern wir den 215. Geburtstag von Louis Braille, dessen Erfindung - die nach ihm benannte Brailleschrift - die Lebenswege von Millionen blinden und sehbehinderten Menschen weltweit maßgeblich beeinflusst hat. In einer Zeit, die von digitalen Fortschritten geprägt ist, bleibt diese einzigartigen Schrift, die auf tastbaren Punkten basiert, bdeutsam. Zum Geburtstag von Louis Braille erzählt Dr. Aleksander Pavkovic, ein Mitglied des Brailleschrift-Komitees der deutschsprachigen Länder, der selbst von Geburt an blind ist, von seinen Erfahrungen.

„Unsere Fähigkeiten voll ausschöpfen”

Der 47-Jährige unterstreicht die nachhaltige Auswirkung der Brailleschrift auf sein Leben, obwohl er als kleinerJunge zunächst skeptisch war, als er zum ersten Mal die vielen Punkte auf Papier fühlte. „Das reinste Punktewirrwarr - so erscheint es einem zunächst”, erzählt er. „Das soll eine Schrift sein?” Aber ja: Die sechs Punkte, die man mit den Fingerkuppen spüren kann, bilden in unterschiedlichen Kombinationen das gesamte Alphabet, sowie Zahlen und weitere Sonderzeichen ab. So ermöglicht die Brailleschrift blinden Menschen das eigenständige Lesen und Schreiben.
„Bald habe ich gemerkt, dass die Schriftzeichen einem bestimmten Bauplan folgen und eigentlich gut nachvollziehbar sind”, erinnert sich Pavkovic. Bereits in der ersten Klasse war er dadurch in der Lage, eigenständig einen Brief zu Weihnachten an seine Oma zu schreiben. Das Schreiben in Braille erfolgt nicht mit einem Stift, sondern mit einer speziellen Schreibmaschine, die die Buchstaben in das Papier prägt. Der Text wird mit den Fingern erfasst statt mit den Augen, aber alle Regeln der Grammatik und Rechtschreibung gelten wie bei der normalen Schwarzschrift. „Die Brailleschrift ist für Menschen wie mich nicht nur ein System zum Lesen und Schreiben, sondern auch ein Tor zur Bildung, Kommunikation und Selbstständigkeit. Sie ermöglicht es uns, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und unsere Fähigkeiten voll auszuschöpfen”, erklärt Pavkovic, der erfolgreich Slawistik, südosteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft in München studiert hat.

„Möglichst viel selbst tun können”

Trotz des digitalen Wandels und der Verfügbarkeit von Sprachausgabe- und Texterkennungstechnologien spielt die Brailleschrift weiterhin eine entscheidende Rolle im Alltag von blinden und sehbehinderten Menschen. „Die Digitalisierung hat zweifellos viele positive Veränderungen gebracht”, sagt Pavkovic. Aber die Brailleschrift habe nach wie vor ihre einzigartige Bedeutung behalten. „Sie ermöglicht uns, Texte in physischer Form zu erfassen, Notizen zu machen und auch kreativ tätig zu sein - Dinge, die mit rein auditiven Technologien nicht dasselbe Maß an Tiefe und Präzision erreichen. Wenn ich längere Texte, schnell und überblicksartig erfassen muss, lasse ich sie mir durchaus gerne vorlesen”, gibt Pavkovic zu. Wenn es jedoch darum gehe, Dinge gründlicher zu erfassen oder etwas Neues zu lernen, sei es oft besser, selbst aktiv zu lesen, statt die Sprachausgabe zu nutzen. „Nicht alles, was die Technik kann, sollte man ihr auch überlassen”, findet er. Es sei wichtig, darum zu kämpfen, möglichst viel selbst tun zu können.
Die Brailleschrift hat im Laufe der Jahre verschiedene Anpassungen erfahren, darunter die Integration in moderneTechnologien wie Braille-Displays und -Notizgeräte. Dennoch bleibt die ursprüngliche Brailleschrift ein wichtiger Bestandteil des kulturellen Erbes und der Identität blinder und sehbehinderter Menschen. „Natürlich gibt es heute einen großen Konkurrenzdruckdurch Hörbücher und so weiter”, bestätigt Pavkovic. Aber „wir sind eine Kultur der Schriftlichkeit und man sollte nicht alle Fähigkeiten an die Technik abgeben.” Man würde ja auch niemandem Stift und Papier wegnehmen, nur weil es Alternativen gebe.
Ein Problem sieht Pavkovic in den immensen Kosten für die verschiedenen Hilfsmittel, die zum Einsatz kommen, um die Brailleschrift auch digital nutzen zu können. Braille-Zeilen, eine Art zusätzliche Tastatur am Computer, ermöglichen blinden Menschen in der Arbeit wie auch im privaten Umfeld selbständig Texte zu lesen und zu verfassen. Aber diese Geräte sind extrem teuer und kosten mehrere Tausend Euro. Während in Deutschland und anderen wohlhabenden Ländern Kostenträger die Finanzierung von Braille-Zeilen unterstützen, sieht die Realitätin ärmeren Ländern oft anders aus. Der hohe finanzielle Aufwand für Braille-Technologie führt dazu, dass viele blinde Menschen in diesen Regionen von der aktiven Nutzung der Brailleschrift am Computer ausgeschlossen sind.

Kein Auslaufmodell

Anlässlich des Geburtstages von Louis Braille ruft Pavkovic daher dazu auf, die Braille-Schrift weiterhin zu unterstützen und zu fördern. Die Brailleschrift sei keineswegs ein Relikt vergangener Tage, sondern vielmehr eine lebendige, essentielle Ressource im Alltag blinder Menschen.
Ich würde mir wünschen, dass sie noch mehr als bisher ins alltägliche Leben Einzug hält”, so Pavkovic. Auf Medikamenten hat sie sich bereits etabliert; schön wäre es, wenn das auch auf Produktverpackungen von Lebensmitteln und in vielen anderen Bereichen selbstverständlich werden würde. Wie viele blinde Menschen beschriftet Pavkovic seine Packungen und Behältnisse im Haushalt selbst mit entsprechenden Braille-Aufklebern. Dies könnte auch seitens der Industrie aufgegriffen werden, um so mehr Eigenständigkeit und Nutzerfreundlichkeit für blinde Menschen zu bewirken. Das wäre eine wichtige Investition in die Autonomie, Inklusion und Chancengleichheit für alle.

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